Friedrichstraße 1896

WINTERGARTEN-VARIETÉ


TEXTAUSZUG "Der Tod der Schlangenfrau"


IM WINTERGARTEN-VARIETÉ IN DER FRIEDRICHSTRASSE  


„Pscht!“ Der Herr am Nebentisch protestierte zu Recht, denn jetzt stellte der Impresario persönlich – und beinahe dialektfrei – die nächste Attraktion vor: „Meine Damen, meine Herren, im ‚Passage-Panoptikum‘ sind demnächst die berühmten ‚Zweiundvierzig wilden Weiber aus Dahomey‘ zu sehen, und die Brüder Castan zeigen gleich gegenüber die ‚Riesen des schwarzen Erdteils‘: exotisch, ungezähmt und angsteinflößend allemal! Wir jedoch ...“, Juppi Weinfurth warf sich dramatisch in die Brust, „... wir zeigen Ihnen die schönen Seiten des schwarzen Erdteils! Lebendige Exoten, direkt importiert aus Afrika! Samirah, die Schlangenfrau, wurde erst jüngst aus einem ägyptischen Harem befreit und mitsamt ihren Sklavinnen und Eunuchen nach Berlin gebracht!“

Brandender Applaus!

„Und jetzt ...“, Weinfurth begab sich katzbuckelnd und wieder und wieder den Zylinder lüpfend, in Richtung Bühnengasse, „... jetzt tanzt Samirah für Sie mit ihrer liebsten Spielgefährtin: einer zwei Meter langen Königspython!“

Erneut Applaus, dazwischen vereinzelte Aufschreie empfindsamer Damen, die damit entweder an den Beschützerinstinkt ihrer Begleiter zu appellieren versuchten oder das Programmheft nicht gelesen hatten. Der Gazevorhang hob sich und gab den Blick auf ein riesiges, rundes Stoffzelt frei, vor dem ein Afrikaner saß und einem schießbogenartigen Streichinstrument fremdartige Musik entlockte, während ein schwarzer Diener – Auguste bezweifelte, dass es sich tatsächlich um einen Eunuchen handelte – einen riesigen Straußenfederfächer schwenkte. Jetzt zogen zwei verschleierte Frauen in Pluderhosen die beiden Stoffbahnen am Eingang zur Seite, und Samirah trat aus dem Inneren des Zelts ins Rampenlicht. Ein Trommelwirbel, dann wurde es totenstill im Saal und auf der Bühne. 

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