Hanna und Jenny Runtschen

Hanna und Jenny Runtschen


Auszug aus "Der Tod der Schlangenfrau"


Die Runtschen-Schwestern teilten sich ein Dachzimmer in der Georgenstraße. Im Hausflur roch es nach Urin und Bohnerwachs, und von Etage zu Etage fehlten mehr Stäbe im Treppengeländer. 

„Oh, guten Tag!“ Hanna Runtschen öffnete die Tür und steckte hastig eine letzte Haarsträhne über ihrem Nackenknoten fest. „Jenny! Besuch! Der Herr Kriminalkommissar!“

„Assistent“, korrigierte Wilhelmi, zog mit einer kleinen Verbeugung den Hut vom Kopf und trat ein. 

Das Licht, das durch die schmalbrüstige Gaube fiel, war trüb vom Regen und reichte kaum, sich in der engen Stube zurechtzufinden: Rechts und links ein Einzelbett mit einem Stuhl als Nachtkonsole, dazwischen eine Waschkommode, deren Marmoraufsatz eine Ecke eingebüßt hatte. An der Wand ein paar Haken für Jacken, Mäntel und die Einkaufstasche und darunter ein abschließbarer Weidenkorb, in dem sich, wie Wilhelmi vermutete, Hanna und Jenny Runtschens ganze Habe befand. Auf der Fensterbank hüpfte ein unscheinbares braunes Vögelchen in seinem Käfig hin und her und tirilierte aus Leibeskräften. 

„Das ist unser Adolf!“ Jenny Runtschen deutete stolz auf den kleinen Sänger. Sie war wie ihre Schwester im Begriff, die Morgentoilette zu beenden, band eine Schleife um ihren Seitenzopf und streckte Wilhelmi die Hand zur Begrüßung hin. „Adolf, nach Adolf Wallnöfer! Hanna hat ihn in Stettin als Tristan gehört und sich unsterblich in ihn verliebt.“

Prompt wurde ihre Schwester rot. „Ich hab als Platzanweiserin am Stadttheater gearbeitet ...“ 

„‚O sink hernieder, Nacht der Liebe‘!“ Jenny kicherte. „Bei jeder Vorstellung hat sie sich auf die Hinterbühne geschlichen und Rotzblasen und Dreierschnecken geheult.“ 

„Na, is’ nu mal so, Herr Kommissar: Wenn einer singen kann, dann kann ich nich mehr an mich halten.“

„Oh, tut mir leid.“ Wilhelmi legte mit großer Geste die Hand auf’s Herz und machte einen Kratzfuß. „Aber Singen ist ein Talent, das Mutter Natur mir schnöder Weise vorenthalten hat.“

Jetzt kicherte auch Hanna. „Setzen Sie sich doch!“ Sie räumte die Petroleumlampe und ein abgegriffenes Buch beiseite: Ein Leben, von Maupassant. Für eine Aufwartefrau eine ungewöhnliche Bettlektüre, stellte Jakob fest. Hanna fing seinen Blick auf. „Im Hotel lassen die Gäste bei der Abreise öfter mal das ein oder andere Buch liegen.“

„Und wir dürfen‘s dann haben.“ Jenny hielt demonstrativ Emmy von Rhodens Der Trotzkopf in die Höhe. „Aber ich hätt‘ in so nem etepeteten Pensionat, wo man von morgens bis abends auf feines Dämchen machen muss, nich sein wollen.“

„Und ich erst recht nich!“ Hanna schob den frei gewordenen Stuhl in die Mitte des Zimmers. „Also: Kaffeekochen könn’ wir hier leider nich; wir kriegen unser Essen und Trinken drüben in der Hotelküche. Aber möchten Sie vielleicht ‘n Gläschen Apfelmost?“

Jakob lehnte dankend ab. „Das ist sehr nett, aber ich muss gleich weiter. Ich möchte Sie lediglich bitten, sich den gestrigen Tag noch mal ins Gedächtnis zu rufen und zu überlegen, ob Ihnen nicht doch irgendwas aufgefallen ist, das uns bei den Ermittlungen helfen könnte.“

Die Schwestern wechselten einen raschen Blick und zuckten fast synchron mit den Achseln. „Samirah … ich mein’, Charlotte … war immer sehr für sich“, erklärte Henny, „sie hat nicht viel geredet.“

„Aber nicht, weil sie eingebildet oder überheblich gewesen wäre, sondern ... Wie soll ich das sagen?“ Jenny Runtschen zog nachdenklich die Stirn kraus. Schließlich tippte sie auf Emmy von Rhodens Backfisch-Roman. „Wenn ich dichten könnte, würd‘ ich sagen: Charlotte umgab etwas Dunkles, Geheimnisvolles.“

Hört sich an, als ob du durchaus dichten könntest, dachte Jakob und stand auf. „Na, dann schau‘n wir mal, wie wir Licht in dieses Dunkel kriegen.“ Er war schon an der Tür, als Jenny aufsprang. „Doch!“, rief sie. „Da war was! Charlotte war zwar immer still und in sich gekehrt, das stimmt, aber an manchen Tagen war sie plötzlich wie ausgewechselt!“

„Genau!“ Hanna war sichtlich froh, zumindest ein bisschen zu Jakobs Ermittlungen beitragen zu können. „Dann war sie geradezu ausgelassen und hat in ihrer Garderobe so komische Lieder gesungen.“

„Komisch, nicht wie ulkig, sondern wie ...“ Jenny suchte diesmal vergeblich nach einem passenden Wort, „... na, komisch eben.“

„Wir haben uns gedacht: Die hat bestimmt irgendwo ‘nen heimlichen Galan!“ Die beiden jungen Frauen kicherten. Dann wurde ihnen klar, dass sie von einer Toten sprachen.

„Verzeihung“, murmelte Jenny, und ihre Schwester nickte schuldbewusst.

Share by: