Tante Hattie korrigiert Fontane

Tante Hattie korrigiert Fontane


Auszug aus "Der Tod der Schlangenfrau"


Ein Stockwerk höher ging das Licht im großen Zimmer aus.

Nachdem es Henrietta nicht gelungen war, sich mit Patiencenlegen abzulenken und ihr normalerweise stets von Erfolg gekrönter Versuch, ihren Schwager in ein Streitgespräch zu verwickeln, an Julius Fuchs’ frühem Rückzug gescheitert war, hatte auch sie sich, ein Buch unter dem Arm, in ihr Schlafzimmer verzogen. Schon nach wenigen Minuten war sie so in ihre Bettlektüre vertieft, dass ihr das nächtliche Ausbleiben ihrer Nichte ausnahmsweise mal entging.

Henrietta hatte Effi Briest bereits verschlungen, als der Roman in Fortsetzungen in der Deutschen Rundschau erschienen war, und wusste daher, dass die Geschichte für alle Beteiligten übel ausgehen würde. Sie las das Buch trotzdem noch mal von vorne.


... wenn es Zärtlichkeit und Liebe nicht sein können, weil Liebe, wie Papa sagt, doch nur ein Papperlapapp ist (was ich aber nicht glaube), nun, dann bin ich für Reichtum und ein vornehmes Haus, ein ganz vornehmes, wo Prinz Friedrich Karl zur Jagd kommt, auf Elchwild oder Auerhahn, oder wo der alte Kaiser vorfährt und für jede Dame, auch für die jungen, ein gnädiges Wort hat ...


Was für ein naives Dummchen, diese Effi, dachte Henrietta und fragte sich, wie ein Mann – und noch dazu ein hochbetagter Zeitgenosse wie Fontane – es jedes Mal wieder schaffte, sich in die Gedanken und Gefühle junger Frauen zu versetzen. Ihr war es damals nämlich nicht viel anders gegangen als seiner Romanheldin: Nachdem ihre ältere Schwester ihren Dickkopf durchgesetzt und einen – wie ihr Vater zu sagen pflegte – „hergelaufenen Künstler“ namens Julius Fuchs geheiratet hatte, kam es den von Coesenitz’ mehr als gelegen, dass ein veritabler britischer Lord ihrer Jüngsten den Hof machte. „Die Liebe stellt sich mit der Zeit schon von alleine ein“, hatte ihre Mutter behauptet, „und wenn nicht, dann hast du immerhin ein komfortables Leben und musst dir um nichts in der Welt mehr Sorgen machen.“ Und Henrietta hatte das – genau wie Effi – fest geglaubt. Doch bereits die Hochzeitsreise war ein Desaster: Man hatte sich ganz einfach nichts zu sagen, und Leidenschaft war seiner Lordschaft fremd. Dass Droydon-Jones anschließend seine Zeit viel lieber auf der Jagd oder im Club verbrachte statt an der Seite seiner Gattin, empfand Henrietta geradezu als Erleichterung. Nur leider gab es in den Cotswolds keinen Major Crampas. 

Den Kerl, den Theodor Fontane zu Effis Liebhaber erkoren hatte, fand Henrietta zwar nicht gerade koscher, aber es hätte ihr trotz aller Vorbehalte gut gefallen, wenn Effi einfach so auf alle Konventionen gepfiffen und mit ihm ein neues Leben angefangen hätte. Im fernen Afrika, zum Beispiel. Das wurde langsam regelrecht en vogue, und der Schlawiner Crampas sah in Tropenhelm und Khakianzug ganz bestimmt fantastisch aus. Aber wer wollte ernsthaft einem Theodor Fontane ins Handwerk pfuschen? 

Seufzend steckte Henrietta eine Haarnadel als Lesezeichen zwischen die Seiten und legte das hübsche, goldgeprägte blaue Buch auf ihre Nachtkonsole. Im Halbschlaf spann sie Effis Geschichte ab dem ersten Kuss im Pferdeschlitten auf ihre Weise weiter: Effi und Crampas auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft – natürlich in Begleitung ihres Kindermädchens, damit die kleine Tochter ihren Liebesrausch in keiner Weise stören konnte. Ein kurzer Aufenthalt in Genua, in einem zart rosé getünchten Grandhotel, mit Blick auf’s Mittelmeer. Vielleicht sogar direkt am Hafen. Und ein paar Tage später dann auf einem Dampfschiff, den Suezkanal durchquerend: Seite an Seite an der Reling stehend, das Fernglas in der Hand. Und ganz in weißem Leinen. Wegen der Hitze. Links und rechts Kamele, Wüstensand und Männer in windgeblähten Gewändern. Und Dattelpalmen – zum Greifen nahe. Und schließlich in Dar-es-Salaam: Sie würden eine Nacht am Indischen Ozean verbringen, eng aneinandergeschmiegt, um sie herum nichts als sonnenwarmer Sand, sanfter Wind in den Palmen und das Rauschen der Wellen. Und am Himmel Milliarden von Sternen. Bevor sie Effi und Crampas auf den Küstendampfer nach Mombasa verfrachten konnte, war Henrietta eingeschlafen. Sie hätte sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht träumen lassen, dass die Bilder dieser Reise für sie Realität werden könnten. Nur eben ohne Effi und ihren Major. 

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